Soziokultur
„Eine Frage, die uns immer wieder gestellt wird, ist diejenige nach der Bedeutung von “Soziokultur”. Ja, der Alte Schlachthof ist ein soziokulturelles Zentrum. Aber was heißt denn das?
Wer erklären möchte, was Soziokultur ist, muss zunächst erklären, was denn Kultur ist. Das ist gar nicht so einfach und soll hier auch gar nicht geschehen. Man könnte aber ein wenig vereinfachend sagen, zur Kultur gehören alle Praktiken, mit denen der Mensch formend in die Welt eingreift. Wir meinen damit ganz bestimmte Praktiken. Etwas enger gefasst nämlich gehören zur Kultur alle Praktiken, die den Menschen helfen, sich in ihrer Welt zu orientieren. Diese Art von Kultur hat eine lange Geschichte. Zur Beantwortung der Frage, was Soziokultur ist, wird die Geschichte im Mittelalter interessant. Schon immer war es die Aufgabe einer bestimmten Art der Kultur, nämlich der darstellenden und bildenden Kunst, Alltagsleben und vor allem Herrschaftsgebaren zu kommentieren. Im Mittelalter nun aber bildete sich um den Herrscher eine Art höfische Kunst aus, die genau das tat. Es gab zum Beispiel Narren, Gaukler und Spielleute. Insbesondere der Narr war es, den man wohlwollend als einen Vorläufer des heutigen Kabaretts begreifen könnte – aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Neben den höfischen Künstlern gab es auch fahrende Schausteller. Shakespeare zum Beispiel gehörte so einer Truppe an, die von Dorf zu Dorf zog und das Volk mit Theater unterhielt. Je erfolgreicher diese reisenden Theaterleute wurden, desto mehr erweckten sie das Interesse von Herrschenden. Könige, Grafen und andere Adlige oder mitunter auch reiche Bürger unterstützten diese Truppen fortan, um sich als Gönner und Förderer der Kunst zu präsentieren und auch, um sich beim Volke beliebt zu machen. Shakespeares Gruppe gefiel beispielsweise dem König von Schottland und England, Jacob I., so gut, dass sie sich “The King’s Men” nennen durfte – eine hohe Auszeichnung! Von den reisenden Theatergruppen war es nicht mehr weit, bis diese reisenden Theaterleute stehende Theater bekamen, wo sie regelmäßig auftraten. Shakespeare Ensemble beispielsweise bespielte das frisch erbaute Globe Theatre in London. Viele solcher kleinen Volkstheater entstanden. Später dann bauten die Herrschenden auch Theaterhäuser. In Deutschland zeugen die bis heute erhaltenen Staatstheater davon, deren Geschichte teilweise schon im 17. Jahrhundert beginnt, aber teilweise auch noch in den letzten Atemzügen der Aristokratie Anfang des 20. Jahrhunderts. So glorios und pompös sie waren – die Kunstszene, die sich auch immer eine gewisse Widerspenstigkeit und Distanz zu den Herrschenden hatte bewahren wollen, drohte in gewisser Weise zu verharmlosen, weil sie dort in diesen schicken Häusern von eben diesen Herrschenden und dem im Entstehen begriffenen Bürgertum vereinnahmt wurde. Das Volk jedenfalls ging nicht in das Wiener Opernhaus, um Mahlers Sinfonien zu hören.
Das Volk ging in Kneipen und verlustierte sich dort! Dort, in diesen Kneipen, entstand in Paris um 1880 herum eine neue Kunstform, das Cabaret (das Wort bedeutet “kleine Kneipe”). Das Cabaret, so heißt es in der Selbstbeschreibung des ersten Betreibers und, wenn man so will, Begründers dieser neuen Kunstform, soll die politischen Ereignisse persiflieren, die Menschheit belehren und ihr die Dummheit abgewöhnen. Dieser Anspruch ist es, mit dem das Cabaret für sich in Anspruch nimmt, die Rolle des Narren für sich zurückzuerobern! Gleichzeitig entsteht in derselben Stadt eine weitere neue Kunstform, das Variete. Hier geht es weniger um Wortbeiträge, sondern um mehr oder weniger derbe Unterhaltung. Es gibt Artisten, Kraftmenschen, Tänzer und mit dem CanCan auch erotische Darbietungen. Diese Künstler traten der Reihe nach unter Programmnummern auf. Noch heute nennt man daher Auftritte von Künstlern auch Nummern.
Was ist bis hierher geschehen: Aus den Darbietungen der fahrenden Schausteller entstanden auf der einen Seite zunächst fahrende Theatergruppen und auf der anderen Zirkusse. Die Theaterleute wurden nach und nach sesshaft und schließlich Teil des Bürgertums. Die Zirkusse traten weiter auf. Als bewusster Gegenpol zur bürgerlichen Kultur entstanden dann das Cabaret, das die Worttradition des Theaters aufgriff, und das Variete, das mit dem Zirkus verwandt ist.
Das Muster, das sich bereits jetzt erkennen lässt, ist immer dasselbe: Diese Kultur, von der hier die Rede ist, steht stets in Opposition zu den Herrschenden und trachtet danach, frei und unabhängig zu bleiben. Wird sie zu sehr von jenen vereinnahmt, etabliert sie sich also, entstehen neue Bewegungen und Richtungen, die ihre Freiheit neu behaupten.
Und so geht die Geschichte weiter, zwei Kriege versehrten, veränderten und verwirrten die Welt, danach entwickelte sich in Deutschland – wohin wir nun blicken – wieder die staatsgetragene Hochkultur, die Volkskultur hatte keinen richtigen Ort, hatte sie sich auch durch die volkstümelnde Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten ohnehin verdächtig gemacht. Dennoch entstanden ab etwa Anfang der 1970er-Jahre in der Gesellschaft – sozusagen dem Sozio – Gruppen, die Kultur machten. Diese Gruppen hatten das Ziel, es allen ohne Zugangsvoraussetzungen zu ermöglichen, sich kulturell zu engagieren. Die Sozio-Kultur mit ihrem Anspruch, Kultur von allen für alle zu machen, war geboren. In der Folge erkämpften sich diese Gruppen Orte, die von der Gesellschaft vergessen wurden: Alte Lagerhallen, Bunker, Lokschuppen oder eben auch Schlachthöfe, die sie besetzten, wo sie sich niederließen und ihre Kunst erprobten, zur Teilnahme offen stellten und vorführten. An diesen anfänglichen Nicht-Orten, was die Übersetzung von Utopie ist, lebten und verwirklichten sie ihre Utopien von einem friedlichen Zusammenleben der Menschen über den Weg der Kunst.
Im Laufe der Zeit professionalisierten sich die Gruppen. Es gab richtige Programme, festere Strukturen und Mietverträge, so dass die Häuser nicht länger besetzt wurden, es gab Menschen, die hauptberuflich einer Tätigkeit in der Soziokultur nachgingen. Auf diese Weise entstand über die Zeit eine hochprofessionalisierte eigene Kultursparte neben der staatsgetragenen Hochkultur, die über das Jahr gesehen sogar mittlerweile mehr Besucher anzieht als diese.
Getragen werden die Einrichtungen der Soziokultur, die über Landes- und einen Bundesverband organisiert ist, im Regelfalle von privaten Vereinen mit ehrenamtlichen Vorständen. So kann sie sich auf dem Wege dieses bürgerschaftlichen Engagements ihre Freiheit bewahren, die nötig ist, um nach wie vor zum Beispiel bissiges Kabarett, wie es nun heißt, anzubieten, damit heute wie damals die politischen Ereignisse persifliert, die Menschheit belehrt und ihr die Dummheit abgewöhnt wird.
Die Soziokultur leistet in ihrer Gesamtheit einen unverzichtbaren Beitrag zur politischen und kulturellen Bildung. Unzählige Projekte mit Schulen und Jugendzentren für Kinder und Jugendliche zeugen davon. Viele Bands und Comedians, die heute sehr bekannt sind, haben ihre Karrieren in Häusern der Soziokultur begonnen. Somit leistet die Soziokultur auch einen wesentlichen Beitrag zur Nachwuchsförderung.
Der Alte Schlachthof präsentiert auf seinen Bühnen und Leinwänden Kabarett, Comedy, Konzerte, Kneipenkultur und ein Kino. Außerdem betreiben wir ein Ticketvorverkaufssystem, um möglichst vielen Veranstaltern eine einfache Möglichkeiten zu bieten, Tickets zu Kulturveranstaltungen zu verkaufen. Mehrere offene Theatergruppen proben bei uns, viele Parteien, Verbände und Vereine treffen sich regelmäßig in unseren Räumen.
Der Alte Schlachthof ist in genau diesem traditionellen Sinne bestrebt, zivilgesellschaftliches Engagement für eine freiheitliche, demokratische Grundordnung zu stärken und den humanistischen Geist in die Gesellschaft zu tragen, um dadurch zu einem friedlichen Zusammenleben beizutragen. Und Spaß darf das Ganze dabei auch noch machen!“
(Kulturhaus Alter Schlachthof e.V.)